Rund 40 Jahre später der Versuch einer Reflexion und Interpretation dieser Zeit in Fragmenten
Beitrag für ZWEIKOMMASIEBEN MAGAZIN 15, 2017
Nach dem Ende der Sex Pistols im Januar 1978 initiiert John Lydon (aka Johnny Rotten) ein Jahr später mit 'Public Image' (aka PIL) PostPunk als einen nächsten kreativen Schritt im Sinne von
«Punk ist eine Geisteshaltung, bei der man offen für neue Ideen und Veränderungen ist.» John Lydon
Während andernorts Punk erst begann und zunehmend zu einer Parodie seiner selbst wurde, entwickelten Bands wie PIL, Joy Division, Siouxsie & the Banshees, Wire, Cabaret Voltaire, etc. neue musikalische Ausdrucksformen. Dabei stand nicht der kommerzielle Erfolg, sondern die kreative Verwirklichung eigener musikalischer Ideen im Vordergrund. Die meisten Mitglieder dieser Bands waren Nicht-Musiker, welche die Instrumente als Klangwerkzeuge nutzen, um die eigenen individuellen Befindlichkeiten auszudrücken.
«Punk hat mir klar gemacht, dass ich nicht ein Instrument perfekt beherrschen muss, um Musik zu spielen oder Kunst zu machen – ich musste einfach nur kreativ sein. Es ging um freie Ausdrucksweise.» Marc Almond
Wichtige Hilfsmittel waren dabei Analog-Synthesizer und Rhythmus-Maschinen in Kombination mit verzerrtem Gitarren-Sound. Im Gegensatz zu den späteren Digital-Synthesizer gab es keine voreingestellten Klänge (Presets), das heisst es musste jeweils zuerst der gewünschte/passende Klang kreiert werden. Zudem wurde oft die Rolle der Instrumente vertauscht, beispielsweise Bass/Synthie als Lead und Gitarre für Soundeffekte. Durch den experimentellen und kreativen Einsatz der analogen Geräte entstanden Soundfragmente (eigene Samples), aus denen anders- und neuartige Songs entwickelt wurden.
In dieser Zeit entstanden auch im deutsch-sprachigen Raum Gruppen mit eigener musikalischer Identität; beispielsweise DAF, Der Plan, Einstürzende Neubauten, Mania D / Malaria, Fehlfarben, Kleenex, Grauzone, mittageisen.
automaten Abend - Unrast auf den Strassen heute gab es viel zu tun Arbeit - nur für Automaten Im Strassenlärm - die schweigende Mehrheit warten an der Endstation Arbeit - nur für Automaten Vergessen - ausgewogen im Fernsehen Unwissen breitet sich aus Arbeit - nur für Automaten Neue Ideen verwendet ohne Gedanken Geschichte wird weiter gemacht Arbeit - nur für Automaten Leben - in schwierigen Zeiten Ordnungen lösen sich auf Arbeit - nur für Automaten Zerrissene Sätze von neuen Herren fremde Stimmen in meinem Ohr Arbeit - nur für Automaten Neue Geräusche - ein Lächeln gegenüber erhellt die Dunkelheit Arbeit - nur für Automaten Küsse im Regen - keine Zeit zum Warten wir gehen unseren Weg Arbeit - nur für Automaten
Ende der 1970er Jahre war das Umfeld weniger bunt als heute, was eine genauere Betrachtung der dazwischen liegenden Farb- bzw. Grautöne erforderte. Die Welt – und speziell Berlin – war unter den damaligen Weltmächten USA, Grossbritannien und Frankreich, sowie der UdSSR aufgeteilt. Während die Sowjetunion und das restliche Osteuropa sich mit Perestroika und Glasnost schwer taten und in Nordirland englische Kolonialisten die irische Bevölkerung mit Waffengewalt unterdrückten, übernahmen Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre rechtskonservative Politiker wie Reagan, Thatcher und Kohl die Schalthebel der Macht. Nach einem Intermezzo der potemkinschen 'neuen Mitte' um die Jahrtausendwende, hinter deren 'Gemeinwohl'-Fassaden primär neoliberale Interessen bedient wurden, nutzten aufgrund des Versagens der etablierten Politiker nun egozentrische Autokraten die Situation aus, um nationalistische, autoritäre Systeme zu installieren.
Das Umfeld hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert und zwar in eine Richtung, die sich spätestens seit 2008 als Sackgasse erweist. Zugleich findet ein rasanter Wandel von Arbeit und Freizeit durch die Digitalisierung von Produkten und Prozessen statt, bei dem jedes Objekt/Subjekt Teil eines kommerziellen 'Internet der Dinge' wird. Analog zu Huxley’s 'brave new world' lässt die materielle Narkotisierung sowie die Debilisierung mittels (alter und neuer) Medien die Menschen noch schneller im Hamsterrad rennen, welches im eingeengten Tunnelblick der Ehrgeizigen als Karriereleiter interpretiert wird.
Dabei wäre es an der Zeit sich zu überlegen, wie die Wertschöpfung aus von Maschinen und Robotern ausgeführten, reproduzierbaren Tätigkeiten vermehrt für nicht monetär entschädigte Tätigkeiten zu Gunsten des Gemeinwohls verwendet werden kann.
«Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst›, spricht die rote Königin zu Alice.» Lewis Caroll, Through the Looking-Glass (1871)
Ende der 1970er Jahre setzten Teile der Jugend ihre Wut in kreative Energie um, rebellieren mit eigener Musik, Fanzines, Kleidung – nicht zuletzt um ein Orwell’sches 1984 zu verhindern. Wie inzwischen von Edward Snowden aufgezeigt wurde, haben seither Staatssicherheitsdienste wie bspw. die NSA technische Systeme zur Überwachung und Kontrolle von Zielgruppen eingeführt.
Auch wenn die Beurteilung der aktuellen Situation und der resultierenden Perspektiven teilweise trist erscheinen und der Punk-Slogan 'No Future!' neue Aktualität erhält, gilt es zu beachten, dass neue Technologien auch kreative Potenziale für alternative Aktivitäten bieten.
«‹No Future› ist überhaupt kein Widerspruch zu ‹do it yourself›. Denn nur wer nichts macht, hat keine Zukunft.» John Lydon
Rund hundert Jahre nach Cabaret Voltaire (Dada) und vierzig Jahre nach Punk ist, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen, die Zeit reif für einen Aufbruch in eine sozio-kulturelle Zukunft.
Die Wirkung von Punk konnte sich aufgrund der Verbindung mit der realen Lebenssituation entfalten. Welche Rolle die Musik in einer nächsten soziokulturellen Rebellion spielen wird, ist offen. Sicher ist, dass es einen Soundtrack dazu geben wird…