London mit Gary Gilmore’s Augen

Ausschnitt aus ‚wir waren HELDEN für einen Tag‘, rororo 1983

cover rororo taschenbuchAnfangs 1977 wurde ich durch Presse, Radio und TV aufmerksam auf Leute, die sich Punk nannten und auch solche Musik machten.
In dieser Zeit lebte ich in der Nähe von Zürich. Es gab damals drei Plattenläden, die ich regelmässig aufsuchte. Auf der – meist erfolglosen – Suche nach irgendwelchen Punk-Singles kam ich an einem Schaufenster vorbei, wobei der Besuch des sich im Hinterhof befindlichen Plattenladens zur Nebensache wurde. In diesem kleinen Kunstwerk entdeckte ich ein ungewöhnlich aussehendes Heft, 'No Fun' aus Zürich. So besorgte ich mir, hinter der von Klaudia Schifferle (Kleenex/Liliput) gestalteten Auslage, eines der ersten deutschsprachigen Fanzine.

Neben einem Bericht vom Clash Konzert 1977 in Zürich, ein zweiter von einem Sham 69 Gig im Vortex, London. Solche Artikel waren neben Plattenbesprechungen meistens die einzige Möglichkeit, überhaupt etwas von den Anfängen des Punk in London mitzukriegen. In eigentlich allen Fanzines waren Reise- und Konzertberichte von Punks zu finden, welche für ein paar Tage nach London reisten, um Gleichgesinnte zu treffen, Konzerte zu erleben und einen Stapel Platten nach Hause zu bringen. Die Konzertberichte waren sehr spontan und subjektiv. Sie unterschieden sich wesentlich von den erweiterten Presse-Infos der Plattenindustrie, welche in den Musikzeitschriften erschienen. Es wurde nur über Bands geschrieben, mit denen man sich identifizierte.

Diese Berichte waren positive Erlebnisse in einem eher tristen Leben – der täglichen Langeweile einer feindlichen Umwelt. Durch die Solidarität mit Bands und anderen Punks entstand jene Energie, welche nötig war, um mehr zu machen als nur zu konsumieren. So fuhr auch ich im Sommer 1978 nach London. Eine der ersten Gruppen, die ich in den zwei Wochen sah, waren Metal Urbain aus Frankreich. Eine exzellente Gruppe, die einen eigenen Musikstil gefunden hatte. Leider wurde diese Band von den Punks nie richtig akzeptiert. Neben dem französischen Gesang dürfte wohl auch der damals noch seltene Gebrauch eines Synthesizers zur Ablehnung beigetragen haben. 'Paris Maquis' Metal Urbain’s erste Single, war zugleich auch die erste von Rough Trade, einem Label das später noch eine Menge guter Platten veröffentlichte.
Am nächsten Abend dann im marquee zwei faszinierende Musiker aus New York: Suicide. Grossstadtmusik, zur falschen Zeit am richtigen Ort!
Am Sonntagnachmittag, nach einer Woche und ein paar langweiligen Konzerten, rein in die Tube und raus zur Chalk Farm. Im Roundhouse spielen Siouxsie and the Banshees! Ein phantastisches Konzert in einem mit Punks überfüllten Saal.
Zwei Tage später – nach einem Abend mit Bunuel und Dali, bzw. ihrem andalusischen Hund – the Clash in der Music Machine. Ihr 'white man in Hammersmith Palais' ist unter den ersten dreissig in den englischen Charts. Einige Monate später werde ich Teile des Konzertes im Film 'rude boy' wieder sehen.
An einem der letzten Abende die Adverts im marquee. Ihr Stück 'looking through Gary Gilmore’s eyes' gehört wohl zu den zehn besten Punk-Singles.

Aus London zurück war für mich klar, dass ich was in Richtung neuer Musik machen wollte. So schrieb ich für ein Fanzine über den Siouxsie and the Banshees Song 'mittageisen' und den Zusammenhang mit Dada und John Heartfield.
Über Konzerte zu schreiben hatte ich damals keine Lust, für mich waren die Zusammenhänge zwischen Musik, Gesellschaft und einzelnen Personen wichtiger.
Neben den Rock-Rebellen Sex Pistols, The Clash, u.a. gab es Gruppen wie z.B. Wire, Siouxsie and the Banshees und Cabaret Voltaire. Während die ersteren Rock-Musik in traditioneller Form machten, schaften es die andern ihre Musik der aktuellen Zeit anzupassen.
Im März 1979 dann Wire und Roxy Music in Zürich! Oder – eine der wichtigsten Bands der frühen 1970er Jahre spielte im 'Nachprogramm' einer der interessantesten Bands der späten 1970er Jahre!
In dieser Zeit fanden vermehrt Konzerte mit regionalen Gruppen statt. In jeder grösseren CH-Stadt gab es Punks und Bands, die an den Wochenenden Konzerte veranstalteten oder welche in anderen Städten besuchten. Entsprechend verlagerten sich die Fanzine-Berichte immer mehr auf die lokale Szene.
So traf ich an einem Siouxsie and the Banshees-Konzert in Baden Punks aus Luzern, der Stadt in der ich meine ersten zwanzig Jahre verbrachte. Einige davon organisierten im Herbst 1979 Swiss Punk Now, vierzehn Punk-Bands spielten an zwei Tagen. Zugleich der Anfang vom Ende einer bis dahin ziemlich kompakten CH-Punkszene.
Während all den Monaten lösten sich Bands und Fanzines auf – entstehen neue in anderer Form, mit anderem Inhalt. Kleinlabels brachten selbstproduzierte Platten raus, alles wurde komplexer. Fanzines beschränkten sich vermehrt auf Szenenberichte ihrer Region. Die Unterschiede vergrösserten sich, es entstanden Szenen die je nach Bands und Fanzines ihre eigenen Merkmale hatten.
In dieser Zeit unterstützte ich die Produktion der ersten unabhängigen CH-Punk-LP (CRAZY aus Luzern), besuchte die Anfangskonzerte von Grauzone in und um Bern und schrieb für SONDERNUMMER, einem Fanzine aus derselben Umgebung.
Juni 1980 nach einer halbstündigen Autofahrt von Zürich in einer ehemaligen Fabrik, das 'Sx-X Fest/ival' – Musik, Filme, Videos, Performance. Töne u.a. von Hertz, DIN A Testbild, -Dt, Grauzone und Der Plan. Hörte erstmals ‚Eisbär‘, ein Song an dem ein Jahr später EMI eine Menge Geld verdienen wird.

Die Welle strandete, hatte sich an den Klippen der Industrie geteilt und aufgelöst. Teile davon flossen und fliessen in anderer Form zurück.
Pop-Musik wird wieder auf einem ziemlich tiefen Niveau gehandelt. Mit mittageisen versuchen wir dem entgegenzutreten, indem wir Musik machen, die uns interessiert und dabei hoffen, dass sie ähnlich gesinnte Hörer findet.